Die ganze Wahrheit über Lügen Elke Antwerpen Juli 1, 2023

Die ganze Wahrheit über Lügen

Wir lügen alle. Jeden Tag. Mehrfach. Die Bandbreite reicht von sozialen Nettigkeiten über kleine Schwindeleien bis hin zu bewussten Täuschungsmanövern. Wir schummeln bei Prüfungen, bei der Steuererklärung und manchmal auch beim Alter, um beim Online-Dating nicht gleich durchs Raster zu fallen. Wir beugen sogar die Wahrheit, wenn wir Informationen weglassen oder übertreiben. Nicht zuletzt sind Ausreden und Halbwahrheiten kleine Schwestern der Lüge.

Wer glaubt, dass es im professionellen Kontext ehrlicher zugeht, irrt gewaltig. Im Job wird beschönigt, vertuscht und gelogen, dass sich die Balken biegen. Es geht schon bei der Bewerbung los, wenn der Lebenslauf ein wenig »aufgehübscht« und Lücken verplausibilisiert werden. Es bedarf nur eines kleinen Zahlendrehers und zack – schon stehen ein paar Jahre mehr Berufserfahrung auf dem Papier.

Auch die andere Seite trickst ungeniert. Unternehmen versprechen Bewerbern spannende Projekte und Weiterbildungsmöglichkeiten, obwohl Zeit und Budget dafür fehlen. Das Bild vom Traumarbeitgeber platzt ebenso schnell, wenn in der Stellenausschreibung von Work-Life-Balance die Rede war und der neue Mitarbeiter feststellen muss, dass regelmäßig Überstunden anfallen.

Warum wir lügen

So freuen wir uns über Geschenke, die uns nicht gefallen oder bewundern das Kleid einer Freundin, obwohl es ihr überhaupt nicht steht. Warum sollten wir sie kränken? Und wer antwortet schon ehrlich auf die Frage: »Wie hat es dir geschmeckt?«, wenn derjenige sich viel Mühe in der Küche gegeben hat? Ganz ehrlich – niemand, jedenfalls niemand mit Feingefühl. So betrachtet, könnte man die Höflichkeitslüge auch der Rubrik »Sozialkompetenz« zuordnen. Der Schriftsteller Mark Twain war ohnehin der Meinung: »Keiner von uns könnte mit einem notorisch ehrlichen Menschen leben.« 

Oft liegt es im Auge des Betrachters, ob eine Aussage nur als kreative Ausformulierung oder als dreister Betrug wahrgenommen wird. Bei der Beurteilung spielt neben der Schwere der Lüge vor allem das Motiv eine Rolle. Zwar stehen fast immer persönliche Interessen im Vordergrund, aber wir machen einen Unterschied: Will beispielsweise jemand einer Strafe entgehen oder geht es um reine Profitgier. Unser Verständnis hat eben seine Grenzen, vor allem wenn jemand zu Schaden kommt. Vor Gericht ist jeder dazu verpflichtet, immer und ausschließlich die Wahrheit zu sagen. Falschaussagen werden nach § 153 StGB sogar mit einer Freiheitsstrafe zwischen drei  Monaten und fünf Jahren bestraft. Unser Gedächtnis ist da noch weitaus weniger gnädig. Ist das Vertrauen erst einmal verspielt, lässt es sich nur schwer wieder herzustellen. Da zieht sich die »Bewährungszeit« auch schon über Jahre hinweg, gemäß dem Motto: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.«

Wie oft wir lügen

Aber lügen wir wirklich so oft, wie uns die Experten weismachen wollen? In Fachzeitschriften und im Internet kursieren Zahlen von zwei bis zweihundert Mal am Tag – je nachdem, wie eng der Begriff der Lüge gefasst und auf welche Weise gemessen wird. Bei dem Messwert von 200 handelt es sich jedenfalls um eine glatte Fehlinterpretation. Denn als in den 70er Jahren der US-Psychologe Jerald Jellison herausfand, dass wir jeden Tag 200 Unwahrheiten hören, wurden ihm buchstäblich die Worte im Munde herumgedreht. Dabei kommt nicht einmal ein notorischer Lügner auf eine so utopisch hohe Anzahl an Lügen. Selbst Donald Trump hat es laut der Washington Post bei seinem persönlichen Rekord am 7. September 2018 »nur« auf 125 »unwahre und irreführende Aussagen« gebracht.

Eine andere Studie ergab, dass wir bei einem zehnminütigen Gespräch mit Fremden zwei- bis dreimal lügen. Und auch hier bestehen berechtigte Zweifel an der Verlässlichkeit dieser Messwerte. Das Ergebnis bezog sich nämlich nur auf einen kleinen Teil der Studiengruppe. Ganze 40 Prozent der Teilnehmenden blieben strikt bei der Wahrheit. Außerdem hatte man ihnen zuvor eingeschärft, sie müssten bei ihrem Gegenüber einen möglichst positiven Eindruck hinterlassen. 

Auch wenn einige Studien nicht sehr valide erscheinen und sich die Forschungsergebnisse bisweilen sogar widersprechen, steht eines fest: Wir flunkern – an manchen Tagen mehr, an anderen weniger. Männer übrigens häufiger als Frauen. Das will jedenfalls die Harvard-Professorin Bella M. DePaulo Ende der 90er Jahre herausgefunden haben. Und auch das Alter spielt wohl eine Rolle: Jüngere Menschen sollen häufiger lügen als ältere. Die Gründe dafür vermutet man darin, dass sich junge Menschen noch beweisen müssen, während sonorere Personen bereits im Job und auch in der Gesellschaft etabliert haben. Böse Zungen behaupten allerdings, dass es eher darin liegen könnte, dass die Schwindelei mit zunehmenden Altern anstrengender wird, weil das Gedächtnis nachlässt, während die Gefahr wächst, aufzufliegen. 

Seit wann wir lügen

Bereits ab dem vierten bis fünften Lebensjahr lernen Kinder zu mogeln. Das ist das Alter, indem sie ein Gespür für das Bewusstsein anderer bzw. die Fähigkeit des Perspektivenwechsels entwickeln. Sie beginnen zu begreifen, dass sie manchmal etwas wissen oder fühlen, was andere eben nicht wissen oder fühlen. Und diese Erkenntnis führt nicht nur zur Empathie, sondern eben auch zum Schummeln.

Stellt sich zum Schluss die Frage: Lohnt es sich zu lügen? Nun, so pauschal lässt sich das nicht beantworten. Tatsächlich ist es in einem gewissen Sinne förderlich für unser soziales Miteinander. Und es gibt Menschen, die kommen mit ihren Lügen nicht nur durch, sondern auch weiter. Doch weder gute Absichten, noch Erfolg stellen meiner Meinung nach einen Freifahrtschein zum Lügen dar.

Lassen Sie mich an dieser Stelle eine Lanze für die Wahrheit brechen: Ehrlichkeit ist und bleibt die erfolgreichste Kommunikationsstrategie. Menschen, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, werden als authentisch und aufrichtig empfunden. Wertschätzend vorgetragen verletzt die Wahrheit auch meist weniger als gedacht, sondern stärkt unser Vertrauen in uns selbst und andere. Somit spielt Aufrichtigkeit nicht nur bei der eigenen persönlichen Entwicklung eine große Rolle.

Außerdem lässt sich die Wirklichkeit nicht weglügen. Egal wie sehr man sich oder anderen etwas vorzumachen versucht – die Wahrheit entspricht immer der Realität und kommt in den allermeisten Fällen irgendwann doch ans Licht. 

Autorin: Elke Antwerpen