Was ist Verhalten? Elke Antwerpen September 19, 2023

Was ist Verhalten?

Mit dem Verhalten ist es wie mit der Kommunikation: Wir verhalten uns immer – auch wenn wir nichts tun. Es gibt richtiges und falsches Verhalten, logisches und irrationales, angemessenes und unangemessenes. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Es beantwortet aber nicht die Frage: Was ist Verhalten? Und kann man es kategorisieren und vorhersagen?

Verhalten steht grob gesagt für alle Aktivitäten und körperlichen Reaktionen eines Menschen, die sich beobachten oder messen lassen. Dabei gibt es viele Faktoren, die nicht nur unser Verhalten, sondern auch Handeln beeinflussen. Um den Unterschied deutlich zu machen: Handeln ist ein bewusstes und zielgerichtetes Verhalten. Dagegen muss Verhalten nicht immer bewusst geschehen. Vor allem Reflexe, wie zum Beispiel das Zusammenzucken, wenn man sich erschreckt, sind kein bewusstes Handeln.

Faktoren, die unser Verhalten beeinflussen

Nicht nur äußere Faktoren wie Umwelt, Tageszeit und Ort haben Einfluss auf unser Verhalten, sondern auch unsere fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken). Daneben gibt es innere Faktoren wie eigene Motive, Wissen, Erfahrung, persönliches Befinden und sogar Klischees und Vorurteile. All das bestimmt die Art und Weise, wie wir in einer bestimmten Situation oder gegenüber unseren Mitmenschen auftreten. Da wir nicht alle dieselben Motive verfolgen und auch nicht dieselbe »Brille« tragen, durch die wir die Welt betrachten, kommen wir zu unterschiedlichen Bewertungen. Wie wir die Welt bewerten, so entscheiden wir und es sind unsere Entscheidungen, die sich in unserem Verhalten manifestieren. 

Typische Verhaltensweisen

Natürlich gibt es typische Verhaltensweisen – nicht nur bezogen auf den dem Individuum zugrunde liegenden Charakter, sondern für einen bestimmten Persönlichkeitstyp. Denn obwohl wir alle Individuen sind, gibt es menschliche Verhaltensweisen, die in bestimmte Kategorien eingeordnet werden können. Sie weisen uns als einem bestimmten »Typ Mensch« aus. Ob es nun das DISG-Modell (Akronyme für dominant, initiativ, stetig und gewissenhaft) ist, oder ob es sich um das Riemann-Thormann-Modell mit den polarisierenden Grundbestrebungen Nähe-Distanz und Dauer-Wechsel handelt – es geht immer um die Einordnung menschlichen Verhaltens. Es geht darum, die hervorstechenden Handlungsweisen wahrzunehmen und entsprechend darauf reagieren zu können. Menschliche Typologien zu kennen bedeutet, besser zu verstehen, wie jemand tickt und nachvollziehen zu können, warum sich jemand so verhält wie er es tut.

Persönlichkeitsmodell

Riemann/Thormann unterscheiden vier Kategorien, aus denen sich genauso viele Pole ergeben: Bindungs- und Hingabefähigkeit (Nähe) versus Abgrenzungsfähigkeit (Distanz) sowie Beständigkeit (Dauer) versus Flexibilität (Wechsel). Grundsätzlich sind alle vier Tendenzen in jedem Menschen vorhanden, wobei sich – je nach genetischer Veranlagung, Sozialisierung und Situation – ein oder zwei besonders ausgeprägt zeigen. Jede Grundstrebung hat Licht- und Schattenseiten, weswegen es weder gut noch schlecht gibt.

Die Einschätzung der Persönlichkeit hinsichtlich der Ausprägung erfolgt in einem zweidimensionalen Koordinatensystem. Dabei wird zwischen einer räumlichen Dimension (Nähe/Distanz) und einer zeitlichen Dimension (Dauer/Wechsel) unterschieden.

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Persönlichkeitsmodell nach Riemann/Thomann aus »Empathie mit Köpfchen«

Auch wenn wir alle Anteile besitzen und – je nach Situation – zwischen den Polen pendeln, macht deren Ausprägung letztendlich unsere Persönlichkeit aus. Besitzt jemand beispielsweise auf der Raumachse 70 Prozent Nähe- und 30 Prozent Distanzanteile und auf der Zeitachse jeweils 50 Prozent Dauer und Wechsel, erhält man aus beiden Koordinaten sein ungefähres »Heimatgebiet«. Dieses lässt sich zwar durch persönliche Entwicklung vergrößern, aber niemals komplett verschieben. Im Kern bleibt jeder der, der er ist. Menschen fühlen sich am wohlsten, wenn sie sich nahe ihrem Heimatgebiet befinden. Das bedeutet: Ein Nähetyp ist dann zufrieden und produktiv, wenn er mit anderen in Kontakt gehen darf, ein Distanztyp, wenn ihm genügend Freiraum zugestanden wird.

Im folgenden Abschnitt stelle ich Ihnen die vier Grundtypen in personifizierter Form vor. Dabei sind die jeweiligen Charaktere samt ihren Eigenschaften bewusst zum Zwecke der besseren Abgrenzung überzeichnet. Tatsächlich treten die Persönlichkeitsanteile weder in ihrer Reinkultur, noch isoliert auf. Die Zuweisung von Mann und Frau ist willkürlich gewählt und lässt sich ebenso gut umkehren. Ausgangspunkt ist eine Szene aus dem beruflichen Alltag: Sie übernehmen eine Abteilung und wollen sich einen Eindruck vom Team verschaffen. 

Vier verschiedene Mitarbeiter-Typen

👉🏼 Herr Distanz begrüßt Sie höflich, aber distanziert. Mit seiner hohen Kompetenz und Zielstrebigkeit hat er es innerhalb kürzester Zeit vom einfachen Sachbearbeiter zum Teamleiter gebracht. Die Beförderung brachte ihm nicht nur Prestige, sondern vor allem das langersehnte eigene Büro ein. Denn in dem Großraumbüro, in dem er bis dahin zusammen mit den Kollegen saß, kam es regelmäßig zum Streit. Vor allem mit Frau Wechsel, die immer wieder einen Teil seines Schreibtischs in Beschlag nahm. Das ärgerte Herrn Distanz nicht etwa, weil er ein Ordnungsfanatiker ist, sondern weil er es partout nicht leiden kann, wenn jemand in »seinen Bereich« eindringt.

Neben Status und Einfluss ist ihm vor allem seine Autonomie das Wichtigste. Große Herausforderungen bewältigt er eigenständig, zügig und erfolgreich. Auf hohem Niveau analysiert, kritisiert und löst er Probleme. Gewohnt, als »Ein-Mann-Armee« zu agieren, gibt dieser ehrgeizige Mitarbeiter ebenso selten Aufgaben ab, wie er Hilfe annimmt. Seine Kommunikation ist klar und direkt. Diplomatisches Geschick sucht man bei diesem ergebnisorientierten Menschen indes vergeblich. Seine Ziele verfolgt er konsequent und mit Nachdruck. Er ist wie kein anderer in der Lage, zügig Entscheidungen zu treffen, und setzt diese zeitnah um. Lange Meetings hasst er genauso wie Small Talk, da beides im Widerspruch zu seinem Bedürfnis nach Effizienz steht. Konflikte kann Herr Distanz gut aushalten, zeigt sich allerdings bei Kritik überraschend schnell gekränkt, vor allem wenn er seine Leistung nicht ausreichend gewürdigt sieht. Weil dieser Mitarbeiter keine Furcht vor Obrigkeiten kennt und immer wieder die Geschäftsleitung auf Missstände bei den Werksarbeitern aufmerksam macht, hat er sich den Respekt seiner Kollegen verdient. Man kann sagen, er ist geachtet im Team, wenn auch nicht übermäßig beliebt.

👉🏼 Frau Nähe fühlt sich dagegen im Großraumbüro ausgesprochen wohl. Sie genießt nicht nur die Nähe zu ihren Kollegen, sondern sucht diese regelrecht. Somit trifft man sie permanent im Gespräch an – ob im Büro, auf den Fluren oder in der Kantine. Ihre Menschenbezogenheit spiegelt sich sowohl in ihrem Arbeits- als auch in ihrem Kommunikationsstil wider. Bei allem, was sie sagt oder tut, geht es ihr stets mehr um die Beziehung als um die Sache. Mit ihrer ausgleichenden, verbindlichen Art sorgt sie für den Zusammenhalt im Team und ein gutes Betriebsklima.

Für ihre Kollegen hat Frau Nähe stets ein offenes Ohr. Sie ist bekannt für ihr großes Herz und Verständnis. Von daher ist sie bei allen äußerst beliebt. Als echter Teamplayer ist ihr der Gesamterfolg wichtiger als die Chance, sich selbst zu profilieren. Eigene Interessen und Bedürfnisse werden gern zugunsten der Harmonie aufgegeben. Sie hält es ohnehin nie lange aus, wenn ihr jemand böse ist. Aus diesem Grund geht Frau Nähe Konflikten konsequent aus dem Weg. Ihre Aufgaben erfüllt sie pflichtbewusst, allerdings ohne diese proaktiv zu suchen.

👉🏼 Herr Dauer ist seit mehr als 20 Jahren im Unternehmen. Systematisch arbeitet er alle Aufgaben ab, die ihm zugeteilt werden – wenn es sein muss, auch über den Feierabend hinaus. Dabei geht er äußerst sorgfältig und genau vor, was zu einer erfreulich geringen Fehlerquote führt. Er liefert pünktlich seine Berichte, erscheint auf die Minute zu Terminen und hält Zusagen exakt ein. Mit ihm als Stellvertreter braucht sich kein Vorgesetzter Sorgen zu machen, dass während seiner Abwesenheit irgendetwas außer Kontrolle geraten könnte. Weniger disziplinierten Kollegen, die schon mal etwas »auf dem kurzen Dienstweg« erledigt haben wollen, stellt er sich vehement in den Weg. Schließlich muss alles seine Ordnung haben.

Seine Tüchtigkeit liegt in der Fähigkeit, planend und ordnend einzugreifen und den Überblick auch dort zu behalten, wo der rote Faden verloren geht oder Emotionen hochschlagen. Veränderungen jedweder Art sitzt er einfach aus in der festen Überzeugung, dass erstens er selbst oder zumindest sein Bereich gar nicht betroffen ist und man zweitens ohnehin nach einiger Zeit wieder zum Alten zurückkehren wird. Dieselbe Konstanz wie im Job zeigt Herr Dauer in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Er pflegt wenige, aber intensive Freundschaften. Seine Frau Vera kennt er seit seinem Studium; er lebt mit ihr und den beiden Kindern zurückgezogen in einem Reihenhaus auf dem Land.

👉🏼 Bei Frau Wechsel handelt es sich um eine ausgesprochen charmante und dynamische Person. Die Gespräche mit ihr sind sehr informativ und abwechslungsreich. Sie spricht gern, schnell und viel. Mit ihrer humorvollen Art schafft sie es, selbst trockenste Themen in spannende Geschichten umzuwandeln. Niemand im Team liebt die Bühne so sehr wie sie. Ihre hohe Flexibilität, ihre Leistungsbereitschaft und insbesondere auch ihr Gespür für Trends prädestinieren sie für den Job als Marketingleiterin, dem sie bis vor einem Jahr nachging, bevor sie in den Vertrieb wechselte. Bereits nach kurzer Einarbeitungszeit hat diese engagierte Mitarbeiterin einen lukrativen Auftrag an Land gezogen. Sie scheut weder Mühe noch Risiko. Ihr Motto lautet: »Wer wagt, gewinnt!«

Auch sonst stellt Frau Wechsel mit ihrer positiven Einstellung und Kreativität eine echte Bereicherung für die Abteilung dar. Als wahres Multitalent könnte man sie praktisch überall einsetzen – außer für einen reinen Schreibtischjob. Der würde für die wissbegierige Mitarbeiterin den sicheren Tod aus Langeweile bedeuten. Nichts hasst sie mehr als Stillstand und Routine – außer vielleicht noch den nervigen Administrationskram, mit dem die Buchhaltung sie quält. Eine termingerechte Erledigung von Aufgaben darf man ebenso wenig voraussetzen wie eine systematische Vorgehensweise. Verspätungen nimmt man der charmanten Chaotin aber nicht allzu übel. Sie spricht mehrere Sprachen, ist an fremden Kulturen interessiert und verbindet gerne Leidenschaft und Job.

Ein erfolgreiches Team besteht aus allen »Typen« 

Bestimmt haben Sie Eigenschaften von Personen aus Ihrem Umfeld wiedererkannt. Vielleicht gab es sogar das ein oder andere Aha-Erlebnis. »Aha, jetzt weiß ich, warum der neue Mitarbeiter erst einmal auf Distanz ging, als ich ihm bei unserer ersten Begegnung gleich das Du angeboten hatte.« 

Ein erfolgreiches Team setzt sich übrigens aus allen vier Grundtypen zusammen. Teams in »ausgewogener Besetzung« sind bestens geeignet, komplexe Aufgaben zu meistern und ein gutes Teamklima zu entwickeln – vorausgesetzt, die unterschiedlichen Grundtypen können konstruktiv und kreativ mit der Andersartigkeit ihrer Kollegen umgehen. Hier ist einmal mehr Empathie von den Führungskräften gefordert. Es gehört zu ihren Führungsaufgaben, für die Akzeptanz und den bewussten Umgang damit zu sorgen. Erfolgreiche Führungskräfte wissen zudem, wer für welche Aufgaben genau der Richtige ist. Sie können Mitarbeiter an den richtigen Stellen entwickeln und an den Stellen, wo gewisse Tendenzen und Neigungen die Zusammenarbeit schwer machen, bewusst gegensteuern. Wenn zum Beispiel die schwach ausgeprägte Gewissenhaftigkeit eines Mitarbeiters mit hohen Wechselanteilen immer wieder zu Fehlern führt, könnten Sie ihn dazu ermuntern, ein System zu entwickeln, das ihn an alles Wesentliche erinnert.

 Im persönlichen Umgang mit Ihren Angestellten sollten Sie Nähe und Distanz variieren. Selbstverständlich möchten alle freundlich und zuvorkommend behandelt werden – allerdings gibt es Unterschiede, wie angenehm (oder unangenehm) Menschen persönlichen Kontakt empfinden. Während Mitarbeiter mit hohem Distanzanteil mehr Abstand im zwischenmenschlichen Kontakt bevorzugen, indem sie unnötigen körperlichen Kontakt, persönliche Gespräche oder zu direktem Augenkontakt meiden, wünschen sich Mitarbeiter mit hohem Näheanteil eine enge Beziehung. Diesem Bedürfnis können Sie durch Anteilnahme, gelebte Fürsorglichkeit und persönliche Gespräche nachkommen.

Autorin: Elke Antwerpen

Auszug aus meinen Buch »Empathie mit Köpfchen – Warum Führungskräfte mehr Hirn als Herz benötigen, um Mitarbeiter emotional mitzunehmen«