»Bitte kommen Sie so bald wie möglich vorbei! Wir haben es hier wieder mit einem besonders schwerwiegenden Fall von Empathielosigkeit zu tun.« Was sich anhört wie ein medizinischer Notfall, ist nichts anderes als der Hilferuf besorgter Personaler, wenn eine Führungskraft mit derselben nüchternen Sachlichkeit, mit der sie vorher Fachthemen anging, ein bislang topmotiviertes Team herunterzuwirtschaften droht.
Manchmal geht es auch nur um die Überwindung von Sprachbarrieren. Wenn beispielsweise Techniker ihre Kunden vom Nutzen eines Prozesses nicht überzeugen können oder Verkäufer ihre Begeisterung für das Produkt nicht transportiert bekommen. Der Klassiker ist und bleibt aber, dass hervorragend ausgebildete Spezialisten entweder aufgrund ihrer Expertise oder ihrer langjährigen Betriebszugehörigkeit zur Führungskraft aufsteigen und recht bald an ihre Grenzen stoßen.
Altbewährte Erfolgsstrategien funktionieren plötzlich nicht mehr
Dabei ist für die meisten beruflich bis dahin alles glattgelaufen: vom Abi und Studium über die Festanstellung in einem renommierten Unternehmen bis hin zur Etablierung als anerkannter Experte. Fachkräfte verdienen gutes Geld, genießen hohes Ansehen und erhalten die Wertschätzung, die ihnen aufgrund ihrer Leistung gebührt. Mit den neuen Aufgaben ändern sich allerdings die Regeln. Plötzlich funktionieren bewährte Erfolgsformeln nicht mehr. Rein auf technische Probleme ausgerichtete Strategien versagen, wenn es um Themen wie interpersonelle Kommunikation, erhöhte Leistungsbereitschaft, emotionale Bindung oder Konfliktmanagement geht. Denn jetzt haben sie mit etwas zu tun, das sich nur bedingt berechnen, oft nicht einmal im Ansatz logisch begreifen, geschweige denn vernünftig lenken lässt – mit dem Menschen. Er gilt als das komplexeste Element in Organisationen und wird nicht ohne Grund als »darwinistische Wundertüte« bezeichnet.
Einer meiner Klienten, ein wirklich brillanter, aber sehr verkopfter Informatiker, beschrieb das Phänomen wie folgt: »Füttere ich meinen Computer mit bestimmten Daten, kommen immer dieselben Ergebnisse heraus – egal, um welchen PC es sich handelt. Mache ich dasselbe mit meinen Mitarbeitern, führt dies zu einer Vielzahl an Resultaten, die sich zum Teil widersprechen. Wenn es ganz verrückt läuft, sogar von ein und derselben Person. Da stellt sich mir die Frage: Was passiert da eigentlich auf der Strecke zwischen In- und Output?«
Die Bedürfnisse und Ansprüche von Mitarbeitern sind gewachsen
So gerät manch kluger Kopf beim Spurwechsel von der Logik zur Psychologik regelrecht ins Schleudern. Vom Fachkräftemangel aufgerüttelt, beginnen jetzt immer mehr Unternehmen, sich um das psychische Wohl ihrer Angestellten zu kümmern. Sie machen derzeit die Erfahrung, dass extrinsische Motivationen wie Bonuszahlungen oder Incentives nicht mehr greifen. Dazu kommt, dass Vertreter der Generationen Y (auch »WHY« genannt) und Z (sprich: alle nach 1995 Geborenen) sich häufig nur schwer motivieren lassen. Waren die vorangegangenen Generationen noch vom System »Anweisungen geben, kontrollieren, auf Macht und Hierarchie setzen« geprägt, verlangen die nachrückenden Mitarbeiter immer mehr einen einfühlsameren Führungsstil. Dieser Führungsstil ist maßgeblich von Offenheit, Dialog, Informationsteilung und Feedback geprägt – also Kennzeichen, die auch typisch für soziale Netzwerke sind, in denen sich die jüngste Generation zu Hause fühlt. Die Bedürfnisse und Ansprüche der Mitarbeiter sind gewachsen. Sie wollen nicht nur bezahlt, sondern auch als Mensch wertgeschätzt und individuell behandelt werden. Talente brauchen tendenziell mehr Herausforderungen, ältere Arbeitnehmer mehr Zuwendung und die Youngster Leitbilder. Diese Unterschiede gilt es ebenso zu berücksichtigen wie die persönlichen Eigenschaften und Stärken des Individuums. Wer darüber hinwegsieht und weiter am Führungsprinzip »Befehl und Kontrolle« festhält, dem laufen über kurz oder lang die Mitarbeiter weg.
Chefs können oder wollen sich nicht mit ihrem Team beschäftigen
Noch bis in die 80er-Jahre hinein war der Empathiebegriff relativ unbedeutend, weil bis dato in der Wirtschaftswelt die Meinung vorherrschte, dass Gefühle dem Verstand unterzuordnen seien. Dies betraf insbesondere die Ansicht über Führungsaufgaben, der zufolge emotionale Distanz zu den Mitarbeitern nötig sei, um die »harten« Entscheidungen treffen zu können, die das Geschäftsleben erfordere. Auch wenn es situationsbedingt nach wie vor sinnvoll sein kann, Gefühle außen vor zu lassen und Befehle zu erteilen, sind sich die Experten einig: Ein motivierter Mitarbeiter leistet um ein Vielfaches mehr als einer, der lediglich Anweisungen befolgt. Bilanzzahlen, Lagerbestände, Unternehmensstrategien – all das ist nach wie vor existenziell wichtig für ein Unternehmen. Wie erfolgreich es ist, hängt vor allem aber von der sozialen Kompetenz seiner Führungskräfte ab, wie die Studie von Timothy Judge und Ronald Piccolo von der University of Florida zeigt. Sie haben das Verhalten von Vorgesetzten in Relation zur Motivation der Angestellten gesetzt: mit dem Ergebnis, dass Mitarbeiter zufriedener, loyaler und motivierter sind, wenn Vorgesetzte ihnen Wertschätzung und Empathie entgegenbringen.
Mit beidem ist es allerdings insbesondere in den oberen Führungsetagen schlecht bestellt. Die meisten Führungskräfte können oder wollen sich mit ihren Mitarbeitern nicht mehr als nötig beschäftigen. Eine Ursache dafür ist der zunehmende Dauerstress unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft, der hochgradig empathiehemmend wirkt. Stress, Hektik und Gefühle wie Wut und Angst lassen die Menschen so sehr um sich selbst kreisen, dass dadurch der Blick auf den anderen verloren geht. Es sind aber nicht allein die äußeren Umstände dafür verantwortlich, dass die Empathie auf der Strecke bleibt. Oft spielen persönliche Eigenschaften eine viel größere Rolle.
Autorin: Elke Antwerpen
Auszug aus dem Amazon-Bestseller: Empathie mit Köpfchen – Warum Führungskräfte mehr Hirn als Herz benötigen, um ihre Mitarbeiter auch emotional mitzunehmen