Ich weiß: Führung in der heutigen Arbeitswelt lässt sich nicht mit feudalen Strukturen aus dem Mittelalter vergleichen. Und doch – wenn Entscheidungen wieder pauschal von oben getroffen, individuelle Lösungen ignoriert und Kontrolle über Vertrauen gestellt wird, fühlt es sich für viele an wie ein symbolischer Rückschritt.
Denn es passiert gerade wieder. Führungskräfte, die eigentlich Antworten auf eine komplexe Gegenwart finden sollten, greifen auf altvertraute Muster zurück: Präsenzpflicht. Kontrolle. Micromanagement mit Feinschliff.
Während die Arbeitswelt sich verändert, erleben wir ein Déjà-vu: Rückgriff auf Steuerung durch Sichtbarkeit. Was früher nach tayloristischem Führungshandbuch klang – also der Idee, Menschen wie Maschinen zu organisieren und Effizienz über alles zu stellen –, kommt heute im modernen Gewand zurück.
Amazon macht’s vor: Mitarbeitende zurück ins Büro. Basta!Seit dem 2. Januar 2025 gilt eine Fünf-Tage-Präsenzpflicht. CEO Andy Jassy begründet dies mit der Stärkung der Unternehmenskultur und besseren Möglichkeiten zur Zusammenarbeit.
Doch die Reaktionen sind gemischt: In einer internen Umfrage äußerten 91 % der befragten Amazon-Mitarbeitenden Unzufriedenheit mit der Entscheidung, und 73 % erwägen einen Jobwechsel.
Deutsche Unternehmen steuern auf mehr Büropräsenz zu
Auch hier bei uns gibt es namhafte Beispiele für einen klaren Präsenzkurs – wenn auch nicht ganz so radikal wie bei Amazon. Diese Vorgaben gelten seit Anfang 2025, mit teils deutlichem Gegenwind aus der Belegschaft:
🔺SAP: Ab 2025 sollen Mitarbeitende mindestens drei Tage pro Woche im Büro arbeiten. Diese Entscheidung wurde mit der Förderung von Teamarbeit und Unternehmenskultur begründet. Allerdings stieß die Maßnahme auf Widerstand: Der Betriebsrat und viele Beschäftigte zeigten sich unzufrieden, was zu internen Auseinandersetzungen führte.
🔺Deutsche Bank: Ebenfalls seit Anfang des Jahres dürfen Mitarbeitende höchstens an zwei Tagen pro Woche außerhalb des Büros arbeiten. Für Führungskräfte ist nur noch ein Tag pro Woche im Homeoffice erlaubt. Diese Änderungen wurden trotz anfänglicher Widerstände der Betroffenen durchgesetzt.
🔺Volkswagen: Der Automobilhersteller hat die Homeoffice-Tage für rund 24.000 Beschäftigte der Kernmarke VW im April 2025 von vier auf zwei Tage pro Woche reduziert. Diese Maßnahme soll die betriebliche Zusammenarbeit intensivieren und die Effizienz steigern. Allerdings sehen sich viele Mitarbeitende, die sich auf das bisherige Modell eingestellt hatten, nun mit organisatorischen und finanziellen Herausforderungen konfrontiert.
🔺Otto Group: Der Versand-Riese hat ihre Homeoffice-Regelungen zum 1. Januar 2025 angepasst. Seitdem gilt für Mitarbeitende der Holding und des Onlinehändlers eine Präsenzpflicht von 50 Prozent der Arbeitszeit im Büro. Die übrige Arbeitszeit kann flexibel gestaltet werden. Auch hier stieß die Änderung auf Kritik innerhalb der Belegschaft, da viele Mitarbeitende ihr Arbeits- und Familienleben auf das vorherige Modell ausgerichtet hatten.
🔺Deutsche Telekom: Das Telekommunikationsunternehmen verfolgt einen hybriden Ansatz. Für Büroangestellte ist in der Regel eine Präsenz an drei Tagen pro Woche vorgesehen, für Führungskräfte an vier bis fünf Tagen. Dieses Modell soll den persönlichen Austausch und die spontane Kreativität in den Teams fördern.
Dass Mitarbeitende wieder häufiger im Büro präsent sind, halte ich keineswegs für problematisch – im Gegenteil: Es kann Teamdynamik, Zusammenarbeit und Zugehörigkeit stärken.
Was mich irritiert, ist das Wie der Rückkehr. Wenn sie pauschal verordnet wird, ohne Differenzierung oder Dialog. Wenn der Arbeitsort über Vertrauen gestellt wird. Und wenn „Kulturpflege“ als Argument vorgeschoben wird, wo eigentlich Kontrollverlust gefürchtet wird – dann ist das kein Führungsansatz, sondern ein Reflex.
62 Prozent der Beschäftigten halten zwar autoritäre Führung in Krisen für notwendig. Aber wenn Kontrolle zum Führungsprinzip wird, dann landen wir nicht in der Zukunft, sondern irgendwo zwischen Misstrauenskultur und Denkverbot.
Was oft übersehen wird
Auch Führungskräfte selbst sind stark belastet. Zwischen Krisen, KPIs und Kulturkampf wird Führung zur Dauerbelastung. Und da wirkt die Rückkehr ins Büro fast wie ein letzter Halt: „Wenn ich sie sehe, hab ich wenigstens das Gefühl von Kontrolle.“
Doch das ist eine Illusion.
❌ Kontrolle ist keine Führung.
❌ Und Anwesenheit keine Antwort.
Was wir stattdessen brauchen, ist Balance
Nicht jedes Homeoffice war ein Gewinn. Und nicht jede Rückkehr ins Büro ist ein Rückschritt. Aber wenn wir Führung nur noch in Extremen denken, verpassen wir das Wesentliche: den Raum dazwischen, in dem echte Führung entsteht.
Hier ein paar Impulse, wie dieser Raum gestaltet werden kann:
🔹 Verantwortung übergeben, nicht nur Aufgaben
Vertrauen in die Kompetenzen der Mitarbeitenden stärkt deren Engagement und Eigenverantwortung.
🔹 Psychologische Sicherheit fördern – unabhängig vom Ort Ein Umfeld, in dem Fehler als Lernchancen gesehen werden, fördert Innovation und Zusammenarbeit.
🔹 Raum für echten Dialog lassen
Offene Gespräche über Erwartungen, Herausforderungen und Feedback stärken das gegenseitige Verständnis.
🔹 Routinen schaffen, statt Präsenz erzwingen
Verlässliche Strukturen geben Halt – ganz ohne Kontrollzwang. Regelmäßige Meetings, klare Kommunikationswege und transparente Erwartungen ersetzen das Gefühl, ständig „vor Ort“ sein zu müssen. Gerade in hybriden Settings wirken gut gesetzte Routinen wie ein gemeinsamer Taktgeber, der Orientierung gibt und Zusammenarbeit stärkt – egal ob im Büro oder remote.
🔹 Selbstführung ernst nehmen
Führungskräfte sollten ihre eigenen Ressourcen im Blick behalten und sich Zeit für Reflexion und Weiterentwicklung nehmen.
Meine Beobachtung
Führung ist heute kein Schwarz-Weiß mehr. Kein Entweder-Oder. Viele Führungskräfte, mit denen ich arbeite, suchen nicht nach dem Modell, sondern nach einer tragfähigen Haltung: Zwischen Vertrauen und Kontrolle. Zwischen Präsenz und Distanz. Zwischen Nähe und Professionalität.
Autorin: Elke Antwerpen