Wir kaufen Bücher – viele Bücher – und lesen dann nur einen Bruchteil davon. Der Bücherstapel wächst schneller, als man ihn abbauen kann. Manche wissen nicht einmal mehr genau, welche Titel sich unten in diesem literarischen Jenga-Turm verbergen.
Und wisst ihr was? Dieses Phänomen hat einen Namen: Tsundoku(積ん読, つんどく).
Der Begriff stammt aus dem Japanischen und beschreibt das liebevolle, aber konsequente Anhäufen von ungelesenen Büchern. Klingt erstmal nach einem exzentrischen Hobby. Aber vielleicht ist Tsundoku gar nichts, wofür wir uns schämen müssen. Vielleicht ist es sogar ein Zeichen für Kreativität, Wissensdurst und eine gehörige Portion Optimismus.
Warum wir Bücher horten, ohne sie zu lesen
Vergangenen Monat stand ich in der Buchhandlung, hielt ein hochgelobtes Sachbuch in der Hand und dachte: Das wird mein Denken revolutionieren! Voller Euphorie kaufte ich es, trug es nach Hause…und legte es auf den fein säuberlich sortierten Stapel auf meinem Nachttisch. Dort liegt es bis heute. Unberührt. Neuwertig. Wahrscheinlich könnte ich es noch umtauschen.
Kommt dir das bekannt vor? Und warum passiert das immer wieder? Hier ein paar meiner Theorien dazu:
📌 Kaufrausch statt Leserausch – Bücher zu kaufen gibt uns das Gefühl, schon produktiv zu sein. Es ist wie Sportkleidung kaufen und dann in Jogginghose auf dem Sofa sitzen.
📌 Das Versprechen der Zukunft – Wir wollen es lesen. Irgendwann. Vielleicht im nächsten Urlaub. Oder wenn wir mal „mehr Zeit“ haben (also nie).
📌 Wissen auf Vorrat – Der Besitz eines Buches vermittelt uns das Gefühl, dass wir das Wissen daraus jederzeit abrufen können. Theoretisch. Praktisch … na ja.
📌 Die Angst, etwas zu verpassen – Was, wenn genau dieses Buch die eine Erkenntnis enthält, die unser Leben verändert? Lieber kaufen und nie lesen als nie kaufen und es dann bereuen!
📌 Ästhetik & Identität – Bücher sind nicht nur zum Lesen da, sondern auch zur Dekoration. Ein gut kuratierter Bücherstapel ist quasi ein intellektuelles Stillleben.
📌 Der Diderot-Effekt – Wer ein Buch kauft, kauft oft gleich fünf dazu, weil sie thematisch passen. Es ist wie beim Netflix-Algorithmus: „Weil Sie sich für diesen Film interessieren, könnten Ihnen auch diese 37 Serien gefallen.“
📌 Das illusionäre Selbstbild – Tief im Inneren halten wir uns für eine Art Universalgelehrten. Natürlich werden wir Das Kapital, Krieg und Frieden und Kritik der reinen Vernunft irgendwann lesen. Spätestens wenn wir in Rente sind.
Was das über dich verrät
Aber was sagt dein Bücherstapel wirklich über dich aus? Ist er nur ein chaotischer Haufen ungelesener Seiten – oder erzählt er eine Geschichte über deine Neugier, deine Sehnsüchte und die Themen, die dich tief im Inneren bewegen? Lass uns einen genaueren Blick darauf werfen.
📖 Du bist optimistisch – Jedes neue Buch ist ein Versprechen an dein zukünftiges Ich: Eines Tages werde ich das lesen! Es zeigt, dass du daran glaubst, dass du in Zukunft mehr Zeit haben wirst, dass du dich weiterentwickelst und dass du dir selbst genug zutraust, auch komplexe Themen irgendwann zu durchdringen.
📖 Du hast einen breiten Interessenshorizont – Ein Blick auf deinen Bücherstapel ist wie eine Landkarte deiner Interessen. Mal Philosophie, mal Psychologie, mal Wirtschaftsstrategie, dann wieder ein Roman über eine Weltreise, die du insgeheim planst. Du willst nicht nur ein Spezialist sein – du willst die Welt in all ihren Facetten verstehen.
📖 Du hast keine Angst vor Unwissenheit – Im Gegenteil: Du umarmst sie. Der Autor Nassim Nicholas Taleb nennt eine Sammlung ungelesener Bücher eine „Antibibliothek“. Sie erinnert dich daran, dass du niemals alles wissen wirst – und genau das macht das Leben spannend.
📖 Du bist ein Sammler – Bücher sind für dich nicht nur Wissensquellen, sondern auch Schätze. Wie andere Schallplatten, Briefmarken oder Vintage-Kameras sammeln, sammelst du Gedanken, Ideen und Inspirationen zwischen zwei Buchdeckeln.
Denn mal ehrlich: Ist es nicht ein schönes Gefühl, in einer Buchhandlung zu stehen und zu denken: All diese Möglichkeiten!?
Warum Bücherstapeln völlig okay ist
Ungelesene Bücher sind kein Zeichen von Faulheit oder Scheitern – sie stehen für Neugier und geistige Offenheit.
Sie sind ein stilles Versprechen an dich selbst: Eines Tages werde ich mir die Zeit nehmen, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie spiegeln deine Interessen, Sehnsüchte und deinen Drang, die Welt in ihrer Vielfalt zu begreifen.
Vielleicht hast du das Buch noch nicht gelesen, weil der richtige Moment einfach noch nicht gekommen ist. Manche Bücher müssen erst auf dich warten, bis du bereit für sie bist. Und wenn es dann so weit ist, wirst du genau wissen, warum du es damals gekauft hast.
Denn Wissen ist kein Ziel, das man irgendwann erreicht. Es ist eine Reise – eine, die mit jedem ungelesenen Buch noch ein Stück weitergeht.
Wie du mit deinem Tsundoku entspannter umgehst
Falls dein Stapel bedrohliche Höhen erreicht, hier ein paar Tipps:
📌 1. Lies selektiv – Kein Gesetz schreibt vor, dass du jedes Buch von vorne bis hinten lesen musst. Manchmal reicht ein gutes Kapitel.
📌 2. Nutze Alternativen – Hörbücher, Zusammenfassungen (z. B. Blinkist) oder gut geschriebene Rezensionen helfen, den Kern eines Buches schneller zu erfassen.
📌 3. Mach Frieden mit deinem Stapel – Bücher sind keine To-do-Liste. Sie sind eine Einladung. Sie warten auf dich – und wenn es Jahre dauert, ist das auch okay.
📌 4. Räume bewusst aus – Falls dich dein Tsundoku doch stresst: Spende Bücher, verschenke sie oder tausche sie mit Freunden. (Und dann kauf neue. Aber pssst!)
Tsundoku ist keine Last – es ist eine Einladung. Statt dich über ungelesene Bücher zu ärgern, sieh sie als das, was sie sind: ein Zeichen für Neugier, Wachstum und die Sehnsucht, die Welt in all ihren Facetten zu verstehen. Sie warten auf den richtigen Moment – und wenn er kommt, wirst du genau wissen, warum du dieses Buch damals gekauft hast.
Denn Wissen ist keine To-do-Liste, sondern eine Reise. Und solange deine Stapel aus Worten und Möglichkeiten weiterwachsen, wächst auch dein Geist.
Also, lassen wir sie wachsen – und lesen, wenn die Zeit reif ist. 📚✨
Autorin: Elke Antwerpen