Während dieser Blogartikel live geht, sitze ich mit einer Gruppe Führungskräfte im Coaching. Ihre Themen, vorab gesammelt, klingen fast identisch: Überlastung, zu wenig Personal, steigende Fehlzeiten. Das ist kein Einzelfall, das ist Alltag. Und hier beginnt Führung – nicht mit großen Gesundheitsprogrammen, sondern mit kleinen, verlässlichen Routinen: aufmerksam hinschauen, Lasten aktiv ordnen und den Wiedereinstieg nach Krankheit strukturiert begleiten. Kleine Schritte, die täglich tragen.
Warum das Thema dringlicher denn je ist
🔺 Depressionen verursachten rund 183 Fehltage je 100; die im März gemeldete „+50 Prozent“-Meldung wurde im DAK-Gesundheitsreport 2025 methodisch korrigiert.
🔺Bei Beschäftigten 60+ dauern Fälle im Mittel rund 58 Tage. Besonders betroffen sind u. a. Erziehung/Kita (586) und Pflege (573) sowie Verkaufsberufe (434) oder Recht und Verwaltung (404). Mit 236 Fehltagen liegen die Werte in der Lebensmittelherstellung deutlich darunter.
🔺Branchenübergreifend hatten rund 7 % der Beschäftigten mindestens eine psychisch bedingte Krankschreibung.
🔺 Psychische Erkrankungen machen zwar nur ca. 5,2 Prozent aller Krankheitsfälle aus, führen aber zu den längsten Ausfallzeiten – im Schnitt mehr als fünf Wochen.
Die Kosten sind volkswirtschaftlich relevant: Insgesamt bezifferte die BAuA 2023 Produktionsausfälle auf 128 Mrd. EUR und den Ausfall an Bruttowertschöpfung auf 221 Mrd. EUR; davon entfallen auf „Psychische und Verhaltensstörungen“ 20,5 Mrd. € bzw. 35,4 Mrd. EUR.
Von der Fürsorge zur Führungsroutine
Hohe Anforderungen + wenig Einfluss + geringe Unterstützung erhöhen das Risiko für Stressfolgen und depressive Episoden. Mehr Handlungsspielraum und echte Unterstützung wirken wie ein Schutzschirm – das belegt das Demand-Control-Support-Modell nach Karasek/Theorell seit Jahren.
Für Führung heißt das: nicht „Wellness“ organisieren, sondern Arbeit gestaltbar machen, Rollen klären und Unterstützung sichtbar leben. Deshalb empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Prävention, Manager-Trainings und gut geregelte Rückkehr-Prozesse.
5 praxisnahe Tipps
1️⃣ Zwei-Fenster-Check-in
Überprüfe 2× pro Woche je 10 Minuten – getrennt nach Task und Tonus. Task: „Was ist der nächste kleine Schritt? Was blockiert?“ Tonus: „Energie heute 1–10? Was bräuchte es für +1?“
Warum es wirkt: Fortschritt und Befinden werden entkoppelt. Antworten werden dadurch ehrlicher.
2️⃣ Hotspots finden, Ballast streichen
15 Minuten im Team: „Mal-eben“-Jobs, Onboarding, emotionale Arbeit listen, die Hotspots markieren und anschließend 20 Prozent für vier Wochen streichen.
Warum es wirkt: Erschöpfung entsteht oft aus vielen Kleinigkeiten.
3️⃣ Frühzeichen erkennen und sofort handeln
Definiere zusammen mit deinem Team 5 Frühindikatoren (z. B. Mitarbeitender zeigt Qualitätsschwankungen, extreme Überstunden, ungewohnte Gereiztheit, sozialer Rückzug). Wer ein Zeichen sieht – Führungskraft oder Mitarbeiter – meldet es über den vereinbarten Weg (Anruf/Mail/Chat). Danach führst du innerhalb der nächsten 24 Stunden mit der betreffenden Person ein 15-Minuten-Gespräch.
Drei-Sätze-Leitfaden:
1.„Mir fällt auf …“ (Beobachtung, ohne Bewertung).
2.„Was steckt dahinter – fachlich oder persönlich?“
3.„Was hilft dirin den nächsten sieben Tagen konkret?“
Warum es wirkt: Ein einfaches, verbindliches Ritual senkt Hemmschwellen, macht leise Signale besprechbar und verhindert Aufschieben.</div>
4️⃣ Geschützte Konzentrationsslots
Jede Person erhält pro Woche zwei feste Zeitfenster von je 45 bis 90 Minuten für konzentriertes Arbeiten. In dieser Zeit gibt es keine Meetings, keine Anrufe und keine Chat-Nachrichten. Du schützt diese Fokusinseln aktiv, indem du die markierten Zeitblöcke respektierst und Ad-hoc-Anfragen abfängst. Fokuszeit nur im echten Notfall unterbrechen.
Warum es wirkt: Die klare Trennung von Fokuszeit und Erreichbarkeit entschärft Dauerstress, verkürzt Durchlaufzeiten und macht Ergebnisse planbar.
5️⃣ Sanfter Wiedereinstieg
Nach einer psychisch bedingten Auszeit vereinbart ihr vor dem Start einen klaren Fahrplan:
In Woche 1 liegen die Kernaufgaben bei ca. 50 %, ohne Zusatzprojekte; zwei klare Wochenziele, zwei kurze Check-ins.
In Woche 2 erhöht ihr auf 75 %; Meetings bleiben schlank (maximal eines pro Tag), Fokuszeiten bleiben geschützt.
In Woche 3 geht ihr – nur bei stabiler Energie und Qualität – auf 90–100 Prozent. Grenzen sind fix: keine Überstunden, keine Rufbereitschaft, Vertretung geregelt.
Zeigen sich Überlastungszeichen, geht es eine Stufe zurück, Ziele werden angepasst – ohne Rechtfertigungsdebatte.
Warum es wirkt: Tempo, Umfang und Erwartungen sind transparent. Das nimmt Druck aus dem Neustart und senkt Rückfallrisiken spürbar.
Führung als Schutzfaktor
Kleine, verlässliche Routinen schlagen große Gesundheits-Programme. Fang mit zwei Bausteinen an (z.B. Check-ins und Tiefarbeitsinseln), halte sie 30 Tage durch und prüfe dann: Was hat Energie geschaffen, was nicht?
Führung braucht Kompetenz im Thema: Gute Trainings für Führungskräfte schärfen Wissen, verändern Haltung und machen unterstützendes Verhalten zur Routine – mit spürbaren, teils messbaren Effekten auf Fehlzeiten.
Und es gilt der Grundsatz Organisation vor Individuum: Erst Arbeit so gestalten, dass Rollen, Lasten und Prozesse klar und fair sind. Danach greifen persönliche Tools wie Achtsamkeit überhaupt richtig.
Viel Erfolg bei der Umsetzung!
Elke Antwerpen
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Quellen: DAK-Psychreport 2025 (Update); BKK-Report 2024; Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) 2023; WHO-Guidelines on mental health at work 2022